
Seit mehreren Wochen zieht die Ukraine die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Grund dafür ist das Wiederaufflammen der Spannungen im Osten des Landes und der Umgebung. Auch wenn die politische Lage seit 2014 instabil bleibt, ist es bedauerlich, wenn die gegenwärtigen Ereignisse – so beunruhigend sie auch sein mögen – uns davon abhalten, einen anderen Blick auf dieses boomende Land zu werfen. Auf dem Gebiet der visuellen Kunst, der Street Art, der Musik, des Designs, der Mode hat die Ukraine und besonders ihre Hauptstadt Kiew eine Fülle von außergewöhnlichen kulturellen Orten zu bieten, von begabten Künstlern und Gestaltern, die darauf brennen, ihren europäischen Nachbarn ein anderes Bild der Ukraine zu zeigen. Zusammen errichten sie im Osten Europas ein dynamisches kulturelles Zentrum, auf das sich die anderen Europäer unbedingt stützen sollten, um solide Grundfesten für einen künftigen kulturellen Austausch zu legen.
In dieser Eigenschaft kommt den Deutschen und den Berlinern – bekannt durch ihre Offenheit, ihre Neugier und ihre Hinwendung zu Osteuropa – eine ganz besondere Rolle zu bei der Festigung einer kulturellen Brücke zwischen zwei Metropolen, die sich gleichen, aber auch zwischen zwei Regionen desselben Kontinents, die kulturell noch viel voneinander lernen können.
Die ukrainische Kultur und die Ukraine im Allgemeinen waren nicht immer so weit von der kulturellen und künstlerischen Szene entfernt, wie sie es heute zu sein scheinen. Die Ukraine war ein Nährboden der Inspiration und hat zahlreiche Künstler hervorgebracht. Voltaire lässt seine Leser durch die ukrainischen Steppen reisen (in Die Geschichte Karls XII., Königs von Schweden). Hauptsächlich durch dieses Werk – 1731 veröffentlicht – das einige Jahrzehnte später eine Quelle der Inspiration für die Romantiker werden sollte, ist die Ukraine in der westeuropäischen Kultur aufgetaucht. Man kann vor allem die Legende des Kosakenreiters Masepa zitieren, der den englischen Romantiker Lord Byron Anfang des 19. Jahrhunderts inspiriert hat und eine Reihe von literarischen (Victor Hugo, Les Orientales 1829), bildlichen (bei den französischen Malern wie Delacroix) oder musikalischen (Liszt mit seiner Étude Transcendentale 1852) Werken in ganz Europa hervorgebracht hat.
Im Verlauf des gleichen Jahrhunderts hat die Ukraine erlebt, wie sich in ihrem Land der berühmte französische Schriftsteller Honoré de Balzac niedergelassen hat. 1850 heiratete er dort in Berdytschiw, einem kleinen Marktflecken im russischen Reich, die polnische Gräfin Hanska und verfasste eine Novelle der Comédie Humaine. Später – 1894 – geht einer der größten deutschsprachigen Schriftsteller Joseph Roth aus ihr hervor, geboren in Ostgalizien, das in den Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie liegt. Roths Lebenslauf gleicht dem anderer großer europäischer Literaten sehr, wie dem des 1857 in Berdytschiw geborenen Joseph Conrad, oder von Paul Celan, geboren 1920 in Czernowitz.
War die Ukraine bis 1991 an verschiedene politische Einheiten gebunden, in denen sich im Laufe der vergangenen Jahrhunderte ethnische, kulturelle, und religiöse Einflüsse von großer Verschiedenheit vermischt haben (Kosaken, Mongolen, Tataren, Osmanen, Polen, Litauer, Russen; römisch-katholisch, griechisch-katholisch, orthodox, muslimisch, jüdisch), ist es gerade die Vielfalt dieser Einflüsse, die ihre Kultur heute so faszinierend macht.
Vor allem um die Wende zum 20. Jahrhundert beginnt die ukrainische Kunst die europäische Kunst nachhaltig zu bereichern, im europäischen Kontext der Modernität mit ihrer Hauptstadt Paris. In weniger als 20 Jahren, ab 1870–1880, findet in den beiden Teilen der Ukraine, die zu dem Zeitpunkt unter der Herrschaft Österreich-Ungarns im Westen und Russlands im Osten stehen, eine Metamorphose des künstlerischen Ausdrucks statt. An deren Ursprung standen die politischen und sozialen Umwälzungen: Abschaffung der Leibeigenschaft, die Infragestellung der imperialen Ordnung besonders im russischen Teil des Landes, revolutionäre Bewegungen, die Industrialisierung, ein – der Aufteilung des Landes zum Trotz oder gerade durch sie befördert – Erwachen nationalen Selbstbewusstseins und Wiederentdeckung von Tradition und Folklore.
Die Umwälzungen erklären zum Teil die Krise des Akademismus und die Geburt neuer Kunstströmungen: Die Bewegung der Realisten mit Ilija Repin als aktivem Mitglied wandte sich ab 1870 sozialen Fragen zu, ehe sie das Feld den Experimenten des Impressionismus und der Secession überließ. Noch einen Schritt weiter ging im Anschluss daran die Avantgarde-Bewegung ging mit ihrem Streben nach radikaler Transformation.
Nur wenige wissen, dass das Geburtsland von Ilja Repin, Kasimir Malewitsch, Mychajlo Bojtschuk, Sonja Delaunay und Alexander Archipenko die Ukraine ist. Sie alle sind aufgewachsen im Kontakt mit der ukrainischen Kultur und haben mit Ausnahme von Repin und Delaunay, die in Petersburg bzw. Karlsruhe studierten, ihre Abschlüsse in Kiew, Odessa oder Lemberg erhalten. Sonja Delaunay ist von den fröhlichen Farben ihrer ukrainischen Kindheit inspiriert und erzählt davon in ihren Memoiren. Der Reichtum der Farben markiert auch die Kompositionen zahlreicher Künstler in ihrem Umkreis.
So wie sich bei vielen Künstlern der Pariser Avantgarde eine Hinwendung zu „primitiven“ Kunstformen feststellen, finden auch bei den ukrainischen Vertretern Volkskunst und Traditionen Berücksichtigung. So nutzt Alexandra Exter handwerkliche ukrainische Techniken wie Stickerei oder Weben, die sie in den seit 1910 entstandenen Handwerkskooperativen erlernt. In diesen werden unter anderem auf der Basis von Schnittmustern von Malewitsch Schals, Kissen, Teppiche und Taschen hergestellt – die sich im Übrigen in Berlin sehr gut verkaufen! Bojtschuk wiederum schöpft seine Inspirationen in der Orthodoxie und stellt 1910 im „Salon des Indépendants“ in Paris eine „byzantinische Renaissance“ vor, die zur Speerspitze einer echten Bemühung wird, eine nationale ukrainische Ästhetik zu schaffen. Das Projekt, aus dem der ukrainische Monumentalismus hervorgeht, gerät allerdings im Rahmen der „großen Säuberungen“ der 1930er-Jahre unter den Druck des sowjetischen Staatsapparats; Bojtschuk selbst wird hingerichtet.
Seit Pariser Schule und Avantgarde-Bewegung hat sich die ukrainische Kunst unter dem Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen weiter angereichert. Das ganze 20. Jahrhundert über sind zahlreiche Strömungen und Schulen entstanden, gewachsen, haben sich durchgesetzt oder aber sind von anderen überlagert worden. Die ukrainische Kunstszene wird dominiert von jungen, dynamischen und gut ausgebildeten Künstlern. Auch wenn sie in Kiew konzentriert ist, so gibt es doch im ganzen Land Ateliers, besonders in Odessa, Lemberg oder Charkiw. Die ukrainischen Künstler sind gut untereinander vernetzt und sind offen für Gespräch und Erfahrungsaustausch mit ausländischen Künstlern. Was die ukrainische Kunstszene auszeichnet, ist gerade die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, tabula rasa zu machen, Regeln zu brechen, zu experimentieren, Wagnisse einzugehen, kurz: innovativ zu sein.
Sich für die ukrainische künstlerische Szene zu interessieren, bedeutet, eine Nation zu entdecken, in der jede Generation eine Hungersnot, einen Krieg, eine schwere Krise, einen Konflikt oder eine Revolution erlebt hat, und deren Kunstgeschichtsschreibung auch jetzt noch erst noch im Entstehen ist. Es bedeutet auch, zu begreifen, dass die ukrainischen Künstler mit ihrer sich laufend erneuernden Kreativität und ihrem Erfindergeist in gleichem Maße den Strom der europäischen und internationalen Kunst nähren, wie es all ihre anderen europäischen Kollegen tun.
auszugsweise auf Deutsch veröffentlicht in: Die Stadtteilzeitung / Februar 2022